15.05.2018
Share: mp3 | Embed video
Einleitung: 

Die Sicht auf den Nahostkonflikt habe sich in den letzten zwanzig Jahren deutlich verändert. Früher habe ein eher propagandistisches Bild vorgeherrscht, so Finkelstein. Demnach habe Israel die „Wüste zum Blühen gebracht“ – eine Art Cowboy und Indianer-Version der Geschichte. Diese Ansicht werde heute kaum noch vertreten. Die Realität werde weit stärker zur Kenntnis genommen. Zudem zeige die Forschung, dass Israel im Konfliktverlauf immer wieder Krieg der Diplomatie vorgezogen habe. Das treffe auch auf den Sechstagekrieg von 1967 mit Ägypten zu, bei dem sich Israel keineswegs gegen einen drohenden Angriff des Nachbarstaats verteidigt habe.

Gäste: 

Norman Finkelstein, US-amerikanischer Politologe und Autor zahlreicher Bücher zum Israel-Palästina-Konflikt. Finkelstein ist Sohn von Holocaust-Überlebenden.

Transkript: 

David Goeßmann: Willkommen bei Kontext TV. Wir sind an der Universität von Leuven in Belgien. Unser Gast ist heute Norman Finkelstein. Finkelstein ist Politologe in den USA und Autor zahlreicher Bücher, darunter “This time we went too far. Truths and consequences of the Gaza invasion” and “Knowing too much. Why the American-Jewish romance with Israel is coming to an end”. Sein Buch “Die Holocaust Industrie” wurde weltweit wahrgenommen und löste kontroverse Debatten aus.

David Goeßmann: Ich möchte mit einem Buch anfangen, das Sie 1995 veröffentlicht haben: „Abbild und Realität des Israel-Palästina-Konfliktes“. Wie sehen öffentliche Wahrnehmung und Wirklichkeit des Konfliktes Ihrer Ansicht nach aus?

Norman Finkelstein: Man darf nicht vergessen, dass dieses Buch vor fast zwanzig Jahren geschrieben wurde und in seine Zeit gehört. Seitdem hat sich das Bild stark gewandelt. Um die veränderte Wahrnehmung an den Universitäten und unter sogenannten gebildeten Menschen, die die meinungsbildenden Publikationen lesen, geht es auch in meinem jüngsten Buch „Knowing too much.“ Früher hatte man ein eher propagandistisches Bild von Israel. Der Staat hatte die Wüste zum Blühen gebracht und kämpfte gegen Terroristen und rückständige Araber – eine Art Cowboy und Indianer-Version der Geschichte. Die amerikanischen Siedler haben die Wildnis erobert, hier war die Wüste erblüht. Heute ist viel mehr über den Ablauf des Konflikts und Israels Verhalten bekannt. Daher ist vieles, das ich damals geschrieben habe, heute völlig unumstritten. Das Buch enthält viel Material, das meine Aussagen belegt. Die Aussagen selbst bedürfen keiner Debatte mehr.

David Goeßmann: Seit der Gründung des Staates Israel 1948 ist viel Blut geflossen. So bei den militärischen Eskalationen und Bombenangriffen auf Gaza in den letzten Jahren. Sie schrieben: „Diesmal sind wir zu weit gegangen.“ Erläutern Sie die Geschichte des bewaffneten Konflikts in Israel-Palästina und was es mit der Selbstverteidigung Israels auf sich hat.

Norman Finkelstein: Das beste Buch zum Thema stammt von dem israelischen Autor Zeev Maoz und heißt „Das Heilige Land verteidigen.“ Er arbeitet die gesamte Forschung zu den militärischen Auseinandersetzungen Israels mit seinen Nachbarn auf und kommt zu dem Schluss: „Mit Ausnahme vielleicht des Krieges von 1948 war kein Krieg, den Israel seitdem gekämpft hat, unausweichlich.“ Keiner der Kriege diente Israels Selbstverteidigung. Es seien selbstgemachte Desaster und provozierte Kriege gewesen. In rechtlichem Sinne muss man sie Angriffskriege nennen.

David Goeßmann: Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Norman Finkelstein: Schwierig ist es vielmehr, ein Gegenbeispiel zu finden. In der Regel wird der Sechstagekrieg von 1967 als präventiver Verteidigungskrieg genannt, aber dafür gibt es keine Beweise. Über diesen Krieg, der nach einer Reihe von gegenseitigen Provokationen von Israel mit Militärschlägen begonnen wurde, lassen sich zwei unumstößliche Aussagen treffen. Erstens: Der ägyptische Präsident Nasser hatte nicht die Absicht anzugreifen. Zweitens: Jeder wusste, sollte er angreifen, dann würde Israel das ägyptische Militär zerschmettern. Oder wie der damalige US-Präsident Lyndon Johnson es Israel gegenüber ausdrückte: Erstens sagen unsere Geheimdienste, dass Ägypten euch nicht angreift und zweitens, selbst wenn, werdet ihr Kleinholz aus ihnen machen. Und genau das ist passiert.