15.05.2018
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Einleitung: 

Im Interview mit Kontext TV erläutert der US-Politologe Norman Finkelstein den Verlauf des Israel-Palästina-Konflikts, erklärt, warum es trotz der völkerrechtlichen Bestimmungen seit über vierzig Jahren keinen Palästinenserstaat gibt und führt aus, dass die Taktik Gandhis im Nahostkonflikt funktionieren könnte. „Ich glaube, das würde sie sehr unter Druck setzen“. Heute sei viel mehr über den Konflikt bekannt. Zu oft hätten israelische Regierungen militärische Gewalt über Diplomatie gestellt und die Zweistaatenlösung blockiert, während sie sich immer mehr palästinensische Gebiete einverleibten. Zudem sei Israel durch zahlreiche Menschenrechtsverletzungen anfälliger für äußeren Druck geworden. Auch wenn Finkelstein die Boykott-Strategie der BDS-Bewegung teilt, kritisiert er ihre politische Unaufrichtigkeit. Er mahnt, an der völkerrechtlichen Zweistaatenlösung festzuhalten. Das Interview mit Norman Finkelstein hat Kontext TV vor den Protesten in Gaza aufgezeichnet.

Gäste: 

Norman Finkelstein, US-amerikanischer Politologe und Autor zahlreicher Bücher zum Israel-Palästina-Konflikt. Finkelstein ist Sohn von Holocaust-Überlebenden.

Die Sicht auf den Nahostkonflikt habe sich in den letzten zwanzig Jahren deutlich verändert. Früher habe ein eher propagandistisches Bild vorgeherrscht, so Finkelstein. Demnach habe Israel die „Wüste zum Blühen gebracht“ – eine Art Cowboy und Indianer-Version der Geschichte. Diese Ansicht werde heute kaum noch vertreten. Die Realität werde weit stärker zur Kenntnis genommen. Zudem zeige die Forschung, dass Israel im Konfliktverlauf immer wieder Krieg der Diplomatie vorgezogen habe. Das treffe auch auf den Sechstagekrieg von 1967 mit Ägypten zu, bei dem sich Israel keineswegs gegen einen drohenden Angriff des Nachbarstaats verteidigt habe.

Der sogenannte Friedensprozess sei in Wahrheit eine Friedensblockade. So habe Israel den Palästinensern in den bilateralen Verhandlungen von Camp David über Taba bis Annapolis nie einen lebensfähigen Staat angeboten, so Finkelstein. Dem gegenüber lasse Israel keinen Zweifel daran, dass man die Siedlungsblöcke mit fruchtbarem Land und den Wasserreserven im Westjordanland dem eigenen Staatsgebiet eingliedern wolle, wodurch dieses in Kantone zerteilt werde. Das mache einen Palästinenserstaat undenkbar. Die israelische Blockade einer Zweistaatenlösung sei zugleich nur möglich, da die Expansionspolitik von den USA gestützt werde. Auch die europäischen Länder ließen Israel gewähren. Sie hätten jedoch prinzipiell die richtige Einstellung in Bezug auf eine Konfliktlösung – anders als die Amerikaner. Sie müssten lediglich ihren Worten Taten folgen lassen und Druck auf Israel ausüben, damit das Land dem Völkerrecht folge, so Finkelstein.

Bei den in den USA lebenden Juden sei eine Veränderung im Verhältnis zu Israel wahrzunehmen. Die „Flitterwochen“ der amerikanischen Juden mit Israel seien vorbei, sagt Finkelstein. Denn sie könnten ihre liberale Haltung nicht mehr länger in Einklang bringen mit dem aggressiven Verhalten des israelischen Staats. Der Goldstone-Bericht über die Gaza-Invasion von 2008 habe zudem gezeigt, dass Israel beim Thema Menschenrechtsverletzungen angreifbar sei. Gewaltloser Widerstand in den besetzten Gebieten würde Israel unter Druck setzen. „Ich denke, dass Gandhis Taktik funktionieren könnte“. In Bezug auf die BDS-Bewegung (Boycott, Devistment, Sanctions) teilt Finkelstein zwar die Boykott-Strategie, kritisiert aber ihre politische Unaufrichtigkeit. Denn ein volles Rückkehrrecht für alle palästinensischen Flüchtlinge, wie es die BDS-Kampagne fordert, würde den Staat Israel „durch die Hintertür“ auflösen. Dafür lasse sich aber keine breite Öffentlichkeit erreichen. Finkelstein mahnt demgegenüber, an der völkerrechtlichen Zweistaatenlösung festzuhalten.

Fast zwei Jahrzehnte sind vergangen, seit Norman Finkelstein das Buch „Die Holocaust Industrie“ veröffentlichte, das eine heftige Debatte insbesondere in Deutschland auslöste. Die Thesen seiner Untersuchung seien jedoch heute nicht mehr umstritten, so Finkelstein. Er habe in dem Buch aufgezeigt, wie der Holocaust seit dem Sechstagekrieg von 1967 zunehmend als ideologische Waffe benutzt werde, um Kritik am Verhalten israelischer Regierungen abzuwehren. Zudem sei die Vernichtung der europäischen Juden als finanzielle Waffe verwendet worden, um „Europa zu schröpfen“. Dabei habe der in den USA ansässige Jüdische Weltkongress Entschädigungszahlungen nicht an die Überlebenden weitergereicht. Finkelstein, selbst Sohn von zwei Holocaust-Überlebenden, erinnert sich, dass seine Mutter vom Weltkongress nur eine kleine Summe erhalten habe, während sein Vater bis zu seinem Tod jeden Monat einen Scheck vom deutschen Staat erhielt.