27.04.2017
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Einleitung: 

Die pan-europäische Bewegung DiEM25, gegründet u.a. von Srećko Horvat und Yanis Varoufakis, dem ehemaligen griechischen Finanzminister, versuche Brücken zu bauen zwischen Parteien in Europa und progressiven Bewegungen. Linke Parteien wie die Labour Party unter Jeremy Corbyn oder Podemos in Spanien dürften den Kontakt zur Basis nicht verlieren, sonst passiere das gleiche wie in Griechenland unter Syriza, so Horvat. Viele Probleme könnten zudem nicht auf einer rein nationalen Ebene gelöst werden. Ein linker Ausstieg aus dem europäischen Projekt sei daher die falsche Antwort. Das gelte für die Finanz- und Wirtschaftspolitik in der EU, den Klimawandel oder die Flüchtlingskrise. Die Linke in Europa habe jedoch versagt, den Menschen Alternativen zum neoliberalen Angriff auf die Gesellschaft anzubieten. Davon haben die rechte Bewegungen und Parteien profitiert, die die Wut der Arbeiter für sich nutzen konnten. Der Zustand in der EU sei „sehr schlecht“. Nun gehe es darum, ein „progressives, international ausgerichtetes Europa“ aufzubauen.

Gäste: 

Srećko Horvat: Mitbegründer von DiEM25, kroatischer Philosoph, Aktivist und Buchautor

Transkript: 

David Goeßmann: Willkommen bei Kontext TV, Srecko Horvat.

Srećko Horvat: Vielen Dank für die Einladung.

David Goeßmann: Sie haben mit Yanis Varoufakis zusammen DiEM25 gegründet. Yanis Varoufakis haben wir im Februar letzten Jahres interviewt. Was ist seitdem aus der Bewegung geworden? Dieses Projekt war in seiner Größe sehr ambitioniert. Allerdings ist bis jetzt kaum eine größere europäische Bewegung sichtbar.

Srećko Horvat: Das Projekt ist jetzt noch ambitionierter als es vor einem Jahr war und die Situation hat sich im Verlauf dieses Jahres sehr verändert, seit DiEM an der Berliner Volksbühne im Februar 2016 gegründet wurde. Die Situation hat sich so sehr verändert, dass wir in der Zwischenzeit den Brexit hatten, die sogenannte Flüchtlingskrise, Trump, dieses Jahr Wahlen in Frankreich und in Deutschland, sowie das Erstarken der Ultrarechten. Natürlich müssen sich DiEM und andere pan-europäischen Bewegungen auf alle diese neuen Entwicklungen einstellen, die fast niemand vorhersehen konnte. Also sind unsere Pläne noch ambitionierter geworden, weshalb DiEM momentan an einer pan-europäischen Flüchtlingsstrategie arbeitet, da wir finden, dass die europäische Flüchtlingspolitik komplett versagt hat. Ich komme gerade aus Belgrad. Im dortigen Hauptbahnhof leben mehr als 2.000 Menschen unter wirklich furchtbaren Bedingungen, ohne die Möglichkeit zu duschen oder ähnliches. Belgrad entwickelt sich gerade zum neuen Calais, weil Europa das Flüchtlingsproblem an die Peripherie outsourct. Dasselbe lässt sich über das Abkommen mit der Türkei sagen. Die europäische Flüchtlingspolitik hat versagt und das hat mit einer europäischen Außenpolitik zu tun, die gar nicht existiert. Die europäische Außenpolitik lässt sich als Export-Import-Export zusammenfassen. Zuerst exportieren wir Kriege, dann importieren wir Flüchtlinge, und dann exportieren wir die Flüchtlinge zurück in die europäischen Peripherieländer. Das ist ein Bereich, in dem DiEM aktiv ist. Wir sind gerade dabei ein Strategiepapier zur Flüchtlingspolitik aufzusetzen. Yanis Varoufakis hat für DiEM ein Team mit renommierten Ökonomen wie James Galbraith, Joseph Stiglitz und anderen zusammen gebracht, das jetzt einen Vorschlag zur Bankenkrise, zum Euro, zum Fiskalpakt und verschiedenen strukturellen Probleme der Eurozone entwickelt. DiEM wird bei den Wahlen in Frankreich und Deutschland mobilisieren. In Großbritannien sind wir gut aufgestellt. Vor allem aber freut uns, dass seit dem Start von DiEM tausende Menschen DiEM beigetreten sind. Wir haben Hunderte von Gruppen in Deutschland, Frankreich, Spanien. Alle haben dieselbe Überzeugung, dass Probleme wie die Flüchtlingskrise, Kriege, die ökologische Krise usw. nicht mehr auf nationaler Ebene gelöst werden können. Sie können nur auf internationaler Ebene angepackt werden. Um die internationale Ebene zu erreichen, müssen wir zuerst die europäische Ebene erklimmen. Und genau auf dieser Ebene haben die Eliten in Europa versagt, das zeigt die europäische Krise deutlich. Sie haben keine europäische Identität und Staatsbürgerschaft geschaffen. Die Bürger Europas haben keine Möglichkeit, über den Weg zu entscheiden, den der Kontinent gehen sollte.

David Goeßmann: Wie haben andere Gruppen auf DiEM25 reagiert? Ich meine damit Gewerkschaften oder Globalisierungsgegner und so weiter. Haben Sie zu denen Kontakt?

Srećko Horvat: Ja. Wir haben zu verschiedenen Gruppen täglichen Kontakt. Wir haben Kontakt zu politischen Parteien. Wir haben sehr guten Kontakt zu „Die Linke“ in Deutschland, zu den Grünen in Ungarn, zur Labor Party in Großbritannien und Podemos in Spanien. Aber DiEM will nicht nur auf der Ebene der Parteipolitik bleiben. Daher haben wir Verbindungen geküpft zur Blockupy-Bewegung in Deutschland oder zu Gewerkschaften. Was DiEM versucht, unterscheidet sich sowohl von einer rein horizontalen Bewegung als auch von einer vertikalen politischen Partei. Wir versuchen, die örtliche Ebene einzubeziehen, weshalb Leute aus Barcelona wie Gerardo Pisarello und Ada Colau sehr eng mit DiEM verbunden sind. Wir verfolgen, was dort mit den Kooperativen und Räumungsklagen geschieht. Wir finden, dass die städtische, kommunale Ebene wichtig ist, genau wie die staatliche, internationale. Wir fetischisieren weder die lokale, noch die nationale oder internationale Ebene. Wir versuchen, alles zu verbinden. Es handelt sich um ein sehr ambitioniertes Experiment, aber ich denke, dass wir nur eine Chance haben wenn wir alle zusammenarbeiten: progressive politische Parteien, Bewegungen, Gewerkschaften, Leute aus dem Technologiesektor und die Bürger in den Ländern. Wir waren von Anfang an gegen das, was nach dem Brexit „Lexit“ genannt wird. Es ist die linke Idee, dass man durch das Verlassen der Eurozone eine ideale Form der Souveränität wiederherstellen könnte. Wir halten das für lächerlich und für eine gefährliche Illusion, da, wie gesagt, all die Probleme, denen wir heute in Europa gegenüber stehen, Probleme auf einer höheren, supranationalen Ebene sind. Wir haben an der Niederlage Syrizas gesehen, dass selbst eine radikal linke Regierung umkippen kann. Sie scheiterte national, weil die Probleme mit der Eurozone zu tun haben.

David Goeßmann: Große Teile der EU wenden sich dem rechten Nationalismus zu, wie in Polen, Ungarn, Kroatien, sowie in Österreich, Frankreich, den Niederlanden, skandinavischen Ländern und Deutschland. Warum ist das so, warum gibt es nach niederschmetternden Jahrzehnten des Neoliberalismus keine Hinwendung zu progressiven Bewegungen und progressiven Alternativen?

Srećko Horvat: Ich halte das für ein Versagen der Linken. Es waren die Nigel Farages und die Le Pens Europas, die es geschafft haben, wütende Arbeiter, die arbeitslos oder Angst vor Flüchtlingen haben, zu mobilisieren. Die Linke hat das nicht geschafft. Nehmen sie Ägypten als Vergleich. Was dort 2011 passierte ist unglaublich. Millionen Menschen versammelten sich auf dem Tahrir-Platz, wo sie gegen Mubarak demonstrierten und für mehr Demokratie, Meinungsfreiheit und wirtschaftliche Entwicklung eintraten. Die Muslimbruderschaft löste Mubarak ab. Der Grund dafür war, dass die Muslimbruderschaft während der Herrschaft Mubaraks, als sie vollständig an den Rand gedrängt und sogar gesetzlich verboten war, jahrzehntelang Hilfsgüter, Arzneimittel, Kredite und Kleidung an die Armen in Dörfern in ganz Ägypten verteilt hatte. Es war nicht die Linke. Traditionell war es die Rolle der Linken, mit der Arbeiterbewegung, der Gewerkschaftsbewegung und der Frauenbewegung zu den einfachen Leuten vor Ort zu gehen, mit ihnen zusammenzuarbeiten und sie auf ihre Seite zu bringen. Ich finde, dass wir, und wenn ich “wir” sage, meine ich damit nicht nur die Linke, sondern alle Demokraten insgesamt, genau da versagt haben. Das hängt auch mit dem Niedergang des Sozialstaats zusammen. Das ist der Grund, weshalb sogar in westlichen Ländern, die einen funktionierenden Sozialstaat hatten, die Ultrarechten auf dem Vormarsch sind. Auch wenn der Sozialstaat aus kapitalismuskritischer Sicht immer ein Kompromiss war, ist ein funktionierender Sozialstaat eine klare Verbesserung für die Arbeiter. Heute muss man in Ländern, die staatliche Wohlfahrt usw. hatten wie in Kroatien für Bildung und Gesundheit zahlen. Meine Generation der Mittdreißiger glaubt nicht einmal mehr, dass sie überhaupt eine Rente bekommen wird. Das erzeugt überall Unzufriedenheit und Wut. Die Rechte bietet Lösungen, die Linke nicht. Deshalb denke ich müssen wir endlich aufwachen, weil der Moment, in dem wir uns befinden, ein sehr gefährlicher ist. Unvorstellbare Dinge sind bereits Realität, dass Großbritannien in Zukunft nicht mehr zur EU zählen wird. In Frankreich könnte Le Pen an die Macht kommen, um Europa in die völlige Desintegration zu führen. Wir haben einen US-Präsidenten Trump. Die neuen Kriege in Syrien und Libyen gehen weiter, die Flüchtlingskrise ist nicht gelöst. Die Lage ist also sehr schlecht. Aber anstatt uns in einen nationalen Kokon zurückzuziehen, sollten wir für eine neue Internationale kämpfen, für Verbindungen zwischen Bewegungen, Medien, Gewerkschaften und politischen Parteien. Anstatt über kleine Differenzen zu streiten, sollten wir uns auf unsere Gemeinsamkeiten konzentrieren. Es geht um ein progressives, international ausgerichtetes Europa.

David Goeßmann: Welches Potential sehen Sie für progressive Bewegungen und Parteien wie zum Beispiel Podemos in Spanien, die Labor Party unter Jeremy Corbyn in Großbritannien oder progressive Teile in Italiens Fünf-Sterne-Bewegung?

Srećko Horvat: Ich würde die nicht alle über einen Kamm scheren. Zum Beispiel würde ich die Fünf-Sterne-Bewegung nicht mit Labor oder Podemos vergleichen, vor allem aufgrund ihrer Einstellung gegenüber der Eurozone, aber auch wegen der Entwicklung im europäischen Parlament, wo sie sich wirtschaftsliberal ausrichten wollten. Wir werden abwarten müssen. Was Podemos und die Labor Party betrifft, so denke ich, dass es wichtig ist, dass diese Parteien mit den Bewegungen in Kontakt bleiben. Wenn Syriza uns eins gelehrt hat, dann, dass neue Parteien ohne Basis ihre progressive Kraft einbüßen. Andererseits, wenn uns Occupy Wall Street etwas gelehrt hat, dann, dass solche Besetzungen und horizontalen Bewegungen politische Parteien brauchen. Philosophisch ausgedrückt brauchen wir eine Art Dialektik zwischen Horizontalität und Vertikalität. Die Bewegungen stärken die Parteien, die die Forderungen der Bewegungen dann umsetzen können. Die Bewegungen müssen dabei in den politischen Prozess einbezogen werden, um die Korruption wie beim „langen Marsch durch die Institutionen“ in Deutschland zu verhindern. Der Aufstieg der Labor Party in Großbritannien ist sehr interessant, weil sie mit mehr als einer halben Million Mitglieder die größte Mitte-links-Partei in ganz Europa ist. Ein großes Potential für Veränderung. Es gibt auch mit Podemos in Portugal Möglichkeiten. Wir von DiEM versuchten Brücken und Infrastruktur für all diese politischen Parteien zu den Bewegungen zu liefern. Denn das Brexit-Problem ist nicht bloß ein britisches Problem, sondern ein europäisches Problem. Das Problem Spaniens, das des italienischen Referendums oder das der Flüchtlingskrise sind nicht isoliert national zu betrachen. Wir brauchen nicht nur politische Allianzen im europäischen Parlament, sondern eine gesellschaftliche Zusammenarbeit über nationale und Partei-Grenzen hinweg.