28.04.2021
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Einleitung: 

Seit dem Abkommen von Oslo 1993 wurde das Westjordanland immer mehr zerstückelt und durch israelische Siedlungen, Mauern und Straßen voneinander abgetrennt. Heute gibt es über 200 Enklaven im Westjordanland, in denen die Palästinenser auf wenig Raum leben. Die Übergänge, versehen mit 600 Checkpoints, sind oft schwer zu passieren. Zum Jordantal gibt es nur sehr eingeschränkten Zugang für Palästinenser. Das mache ein normales Leben unmöglich und die Bewohner abhängig von internationalen Hilfslieferungen. Letztlich weigere sich die israelische Regierung, „das Land mit den PalästinenserInnen zu teilen“. Viele Israelis, die an sich Frieden wollten, schauten aber weg. Das sei fatal, da Verständnis für die Lage der Palästinenser Schlüssel für eine Konfliktlösung sei, so Roy.

Gäste: 

Sara Roy, Nahostexpertin und Politikwissenschaftlerin an der Harvard University

Transkript: 

David Goeßmann: Sie bezeichnen das Westjordanland als Insellandschaft. Wie meinen Sie das genau?

Sara Roy: Zu den Regelungen der Osloer Abkommen gehörte die Einteilung des Westjordanlands in mehrere Zonen, die Gebiete A, B und C.

Übrigens ist alles was ich hier sage, sind all diese Informationen und Daten frei verfügbar, und noch vieles mehr. Es gibt dazu jede Menge Literatur von unterschiedlichsten Quellen: Internationale Institutionen, die Weltbank, der IWF, alle möglichen Finanzinstitute, israelische Quellen, palästinensische Quellen und auch europäische Quellen. Jeder kann sich selbst informieren und weiterbilden, das Material ist da. Was es wirklich für das Leben der Menschen vor Ort bedeutet, versteht man natürlich am besten, indem man dorthin reist und sich selbst ein Bild macht.

Jedenfalls wurde das Westjordanland in mehrere Gebiete mit unterschiedlichen Zuständigkeiten aufgeteilt. Gebiet A steht komplett unter palästinensischer Verwaltung, was nicht ganz richtig ist, weil die Palästinenser nie das letzte Wort haben. Das Gebiet A umfasst die größeren Städte des Westjordanlandes. Gebiet B steht unter gemeinsamer Verwaltung: die Palästinenser sollten die zivile Verwaltung übernehmen und Israel die Sicherheitshoheit. Gebiet C wiederum, das etwa 60% des gesamten Westjordanlandes ausmacht, steht unter uneingeschränkter israelischer Verwaltungshoheit.

Man kann es sich ein bisschen wie einen Schweizer Käse vorstellen. Es gibt Löcher und diese sind größtenteils in palästinensischer Hand, während der Käse dazwischen von Israel kontrolliert wird. Klar ist das eine grobe Vereinfachung, aber vielleicht hilft es, um ein Gefühl für die Situation zu bekommen. Wie viele von den Löchern die Palästinenser kontrollieren ist letztlich egal. Entscheidend sind die Übergänge zwischen den Löchern, über die sie so gut wie gar keine Kontrolle haben. Es gibt also so etwas wie einen Flickenteppich von Enklaven, einer internationalen NGO zufolge sind es geschätzte 227, in denen die Palästinenser*innen leben. Das führt dazu, dass die Menschen mehr oder weniger gezwungen sind, in ihren „Löchern“, in diesen Enklaven zu bleiben, weil es ihnen erschwert oder teilweise auch unmöglich gemacht wird, sich dazwischen zu bewegen, um von A nach B zu gelangen. 

Der Großteil des Westjordanlandes steht komplett unter israelischer Kontrolle und Palästinenser*innen haben dazu keinen Zugang oder, wie im Jordantal, nur sehr eingeschränkten Zugang. Die Menschen sind daher in immer kleineren Landstücken eingepfercht. Für Freunde von mir, die im nördlichen Westjordanland leben, ist es unglaublich schwierig, in den Südteil zu reisen. Viele bleiben daher, wo sie sind, weil sie nie sicher sein können, ans Ziel zu gelangen. Sie verlieren viel Zeit und leider auch sehr viel Geld, weil sie durch eine ganze Reihe von Kontrollen müssen. Und es gibt keine Garantie, dass man auch durchgelassen wird.

Zu manchen Gebieten ist den Palästinenser*innen der Zugang verwehrt. Im Westjordanland gibt es eine regelrechte israelische Siedlungsinfrastruktur. Neben den Siedlungen selbst existiert ein Straßennetz, das diese miteinander verbindet und das die Palästinenser*innen nicht oder nur mit Einschränkungen nutzen dürfen. Es ist wie ein Netz, dessen Maschen sich von Tag zu Tag enger um sie legen.

Die Siedlungen wachsen und dementsprechend auch die dazugehörige Infrastruktur. Gleichzeitig wird den Palästinenser*innen mehr und mehr das Recht genommen, auf ihrem eigenen Land zu Leben und zu arbeiten.

Und dann ist da ja noch die Trennmauer, die sich durch das Westjordanland zieht. Wenn es wirklich eine Sicherheitsmauer wäre, dann hätte man sie entlang der Grünen Linie, der Waffenstillstandslinie zwischen Israel und dem Westjordanland, gebaut, aber stattdessen ragt sie in das Westjordanland hinein. Die Mauer ist letztlich Landraub, ein Versuch, auf der israelischen Seite der Mauer möglichst viel fremdes Land faktisch zu annektieren. Die Palästinenser*innen haben daher immer kleinere Gebiete zum Leben und sind oftmals von ihrem eigenen Ackerland abgeschnitten. Oft leben die Menschen auf der einen Seite der Mauer, während das Land, das sie über Generation oder zumindest über viele Jahre bestellt haben, auf der anderen Seite liegt. Zwar erhalten sie zum Teil an bestimmten Tagen oder zu bestimmten Zeiten Zugang, aber ihr gesamter Lebensalltag verändert sich dadurch.

Viele Menschen haben ihr Land auch verloren. Seit Anfang des Osloer Friedensprozesses wurde Land beschlagnahmt, übrigens mit Erlaubnis der palästinensischen Autonomiebehörde, um darauf die Zufahrtsstraßen zu den Siedlungen zu bauen und später natürlich auch um die Sperrmauer zu errichten.

Das meine ich mit dem Begriff Insellandschaft: Die Teilung in separate Enklaven und Gebiete. Mehr und mehr bleiben die Menschen in diesen sehr eng umgrenzten Gebieten, weil jeder Ortswechsel ihnen schwergemacht wird. Und vielfach wird ihnen der Zugang zu ihrem eigenen Grund und Boden im Westjordanland verwehrt. Außerdem wird ihr Wasserverbrauch streng rationiert. Aktuelle Daten zeigen, dass israelische Siedler 300 Liter pro Kopf erhalten, während den Palästinenser*innen nur 70 Liter gestattet werden. Manchmal haben Dörfer und Städte im Westjordanland tagelang kein Wasser. Das meine ich, wenn ich von Gewalt spreche, von Besatzung. Hier wird institutionalisierte Gewalt gegen Menschen ausgeübt. Dabei geht es nicht nur um bewaffnete Konflikte, sondern auch um Landraub, Wasserraub und die Zerstörung von Wohnhäusern. Im Kern werden dabei die Menschen der Möglichkeit beraubt, zu arbeiten, für ihre Familien und ihre Kinder zu sorgen und ein normales Leben zu führen, wie wir alle – ob hier in den USA, in Deutschland, in Frankreich oder anderswo – es führen wollen.

Das ist für mich das Tragische. Und es ist ein himmelschreiendes Verbrechen, Menschen so zu behandeln. Ich verstehe auch letztlich nicht, was Israel meint, auf diese Weise zu erreichen. Israelis und Palästinenser*innen leben ja zusammen. Sie leben so eng zusammen, dass eine Trennung im Grunde unmöglich ist. Egal, wie viele Mauern man baut, egal wie viele Schranken und Checkpoints. Es gibt mittlerweile wohl an die 600 Checkpoints unterschiedlicher Art im Westjordanland. Selbst wenn man den Gazastreifen noch so dicht abschottet: Am Ende liegen ja nur ein paar Dutzend Kilometer zwischen diesen Gebieten. Deshalb ist auf lange Sicht jede Form der Trennung unhaltbar. Israelis und Palästinenser*innen müssen miteinander auskommen. Das ist ihr Schicksal.

Die Regierungen Israels können nichts erreichen, wenn sie die Menschen so behandeln. Egal was Leute sagen: Dieser Konflikt ist dem Wesen nach ein Territorialstreit und kein Streit um Religion, und wird es hoffentlich auch nie werden, denn dann wird es wirklich aussichtslos. Es geht hier um Land und vor allem um die Weigerung der israelischen Regierung, das Land mit den Palästinenser*innen zu teilen. Besonders traurig ist für mich , dass die meisten Menschen in Israel, einschließlich meiner Familie, die ich sehr gerne habe und die wunderbare, anständige Menschen sind, keinen Schimmer davon haben, wie das Leben für die Palästinenser ist, die nur 50 oder 60 Kilometer weit weg wohnen. Es interessiert sie nicht und es ist für sie auch bequemer, es nicht zu wissen. Genauso wenig verstehen sie wirklich, welche Politik ihre eigene Regierung in den palästinensischen Gebieten verfolgt, wie es den Menschen dort über die Jahre ergangen ist und erst recht nicht, warum es so gekommen ist.

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Menschen in Israel Frieden wollen. Wenn es zu einer, wie ein Freund von mir es ausdrückte, „beiderseits inakzeptablen Einigung“ käme, würden sie dafür stimmen. Ich habe Familie und viele Freunde in Israel und kann daher sagen, dass die Menschen dort nicht in Angst leben möchten. Aber wie bringt man die Menschen nach all den Jahren dazu, einander zu vertrauen? Ich glaube auch, dass es etwas anderes wäre, wenn die Menschen in Israel mehr davon wüssten, was in den palästinensischen Gebieten wirklich passiert und unter welchen Bedingungen die Menschen dort leben müssen. Was sie auszuhalten haben. Wenn es mehr Verständnis und Verbundenheit zwischen den Bevölkerungen gäbe, würde sich die Situation auf jeden Fall zum besseren verändern. Das möchte ich glauben und ich glaube es auch.

Aber nochmal zurück zu Oslo und der Enklavenbildung, der Verinselung: Die Absicht dahinter ist, Israelis und Palästinenser*innen voneinander zu trennen. Seit Beginn der Besatzung ging es nie darum, Palästinenser*innen in Israel zu integrieren oder Israelis in den palästinensischen Gebieten zu integrieren. Die Bevölkerungen sollten getrennt bleiben. Aber es gab auch Austausch. Palästinensische Menschen kamen täglich zum Arbeiten nach Israel. Zwar mussten sie nachts wieder gehen, aber es kam dennoch zu Interaktionen. Ich habe das in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten immer wieder erlebt. Jetzt ist das vorbei. Der Austausch findet seit Oslo praktisch kaum noch statt. Dieser angebliche Friedensprozess führte nicht nur zur Abschneidung des Gazastreifens vom Westjordanland und damit zur inneren Teilung der Bevölkerung, sondern auch zu drastischen Einschränkungen und letztendlich zum Versiegen des Austauschs zwischen Palästinensern und Israelis. Zwar kommen immer noch Menschen aus dem Westjordanland zum Arbeiten nach Israel - sie arbeiten in den Siedlungen und auch in Israel selbst. Aber der Gazastreifen ist komplett abgeschnitten. Dabei arbeitete früher ein beträchtlicher Teil der Bewohner Gazas in Israel. Letztlich wollte man jeglichen menschlichen Kontakt inzwischen Palästinenser*innen und Israelis unterbinden. Das hat auf beiden Seiten viel Leid erzeugt.