28.04.2021
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Einleitung: 

Die Lage in Gaza aber auch im Westjordanland habe sich in den letzten zwanzig Jahren verschärft. Die Unterdrückung durch die Besatzungsmacht Israel sei heute schlimmer als jemals zuvor und mit mehr Gewalt verbunden, so Sara Roy, leitende Forscherin am Center for Middle Eastern Studies der Harvard University. Die israelischen Behörden hätten großen Schaden angerichtet. Den Palästinenser werde durch Land- und Wasserraub, Zerstörung von Wohnraum und ökonomischer Blockadepolitik ein Leben in Würde verweigert. Der Gazastreifen sei trotz gegenteiliger Rhetorik weiter ein besetztes Gebiet, eine Art Gefängnis, das nach außen abgeschottet werde, auch vom Westjordanland. Das habe nicht nur die palästinensische Wirtschaft zerstört, sondern auch „jedes Gefühl der nationalen oder politischen Zusammengehörigkeit“. Verantwortlich dafür sei vor allem der Oslo-Friedensprozess, der von Anfang an „extrem destruktiv“ gewesen sei, so Roy.

Gäste: 

Sara Roy, Nahostexpertin und Politikwissenschaftlerin an der Harvard University

Transkript: 

David Goeßmann: Willkommen bei Kontext TV . Wir sind heute an der Harvard University in Cambridge USA. Unser Gast ist Sara Roy. Sie ist leitende Politikwissenschaftlerin am Center for Middle Eastern Studies an der Harvard University. Sie ist eine der führenden Wissenschaftlerinnen zum Gazastreifen, zur palästinensischen Politik in den besetzten Gebieten und zum Israel-Palästina-Konflikt. Ihre Familie wurde im Holocaust ausgelöscht. Nur ihre Eltern überlebten die Vernichtungslager in Auschwitz und Kulmhof In Polen.

Sara Roy: Ich habe 1985 mit meiner Forschung angefangen und damals wie heute lebt die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen und im Westjordanland unter äußerst widrigen Umständen. Die Lage hat sich aber dramatisch verschlechtert. Die Unterdrückung durch die Besatzungsmacht Israel ist heute schlimmer, und mit mehr Gewalt verbunden. Dabei meine ich mit Gewalt nicht nur Waffengewalt, sondern auch Entrechtung, politische Entrechtung, wirtschaftliche Entrechtung, Land- und Wasserraub, die Zerstörung  von Wohnraum, die Zerstörung der Wirtschaft. Den Menschen wird das Recht verweigert, zu arbeiten, einen Lebensunterhalt für die eigene Familie, die eigenen Kinder zu verdienen und ein Leben in Würde zu führen.

Die Zustände in Gaza sind heute schlimmer denn je. Und auch im Westjordanland ist die Zuspitzung unübersehbar. Ein Bericht der Weltbank, ich glaube aus dem Jahr 2011, den ich in einem Artikel zitiert habe, beschreibt den Gazastreifen  - sinngemäß - als abgeschlossene Insel und das Westjordanland als fragmentierter Archipel. Das ist absolut zutreffend. Eine der verheerendsten Entwicklungen für das Leben der Palästinenser*innen im Westjordanland und im Gazastreifen war in den letzten 20 Jahren die Abtrennung dieser Gebiete, die Isolierung des Gazastreifens vom Westjordanland und von Israel selbst.

Diese Entwicklung war zudem gewollt. Der gesamte Oslo-Prozess war darauf ausgerichtet, die Gebiete aufzuspalten, den Gazastreifen abzuschotten und das Westjordanland in voneinander abgeschnittene Enklaven zu zerstückeln. Diese Teilung der palästinensischen Gebiete und das Auseinanderreißen der Gemeinschaft nimmt der palästinensischen Wirtschaft die geographische Grundlage und zerstört unweigerlich jedes Gefühl der nationalen oder politischen Zusammengehörigkeit. Die israelischen Behörden haben erreicht, was sie wollten und großen Schaden angerichtet. Der Osloer Friedensprozess war von Anfang an extrem destruktiv, auch wenn nicht alle das so wahrgenommen haben.

Für diejenigen von uns, die die Abkommen gründlich gelesen haben, war das von vornherein klar. Es war offensichtlich, dass diese Verträge keine Abkehr von der Vergangenheit oder ein Ende der Besetzung bedeuteten, sondern lediglich deren Fortführung in abgewandelter Form. Heute erleben wir die tragischen, aber logischen Konsequenzen eines 20 Jahre währenden Oslo-Prozesses, der darauf angelegt war, die Palästinenser zu spalten, Gaza vom Westjordanland abzutrennen und zu isolieren und Israel die Vorherrschaft über das Westjordanland zu sichern. 

David Goeßmann: Was ist mit der Abkoppelungspolitik Israels? Hat diese in ihren Augen die Lage in Gaza verschlechtert?

Sara Roy: Israel hat seine Armee aus dem Gazastreifen abgezogen und die Siedlungen dort sind verschwunden, was an sich eine gute Sache war. Aber die israelischen Behörden haben trotzdem die volle Kontrolle über Gaza behalten. Sie haben Die Verantwortung abgegeben, aber kontrollieren weiterhin die Grenzen, den Meerzugang, den Luftraum und sogar das Einwohnermelderegister. 

Indem Israel die Grenzen kontrolliert, hat es automatisch die Kontrolle über die Wirtschaft, den Lebensunterhalt der Menschen und deren Möglichkeiten, ein normales Leben zu führen. Durch den Rückzug aus dem Gazastreifen wollte Israel einerseits seine Herrschaft über das Westjordanland zementieren und die Siedler aus Gaza in Siedlungen im Westjordanland konzentrieren. Insbesondere sollten Israels Ansprüche im Westjordanland durch die angebliche Rückgabe von Land im Gazastreifen an die Palästinenser legitimiert werden. Doch von einer Rückgabe kann nicht die Rede sein, da Gaza, wie gesagt, vollständig unter israelischer Kontrolle ist. Die Besetzung dauert also an. 

Israel ist weiterhin Besatzungsmacht im Gazastreifen, auch wenn sie dies bestreiten und von einem Rückzug sprechen. Besatzung ist aber im Völkerrecht definiert als faktische Kontrolle eines Gebiets. Das ist eindeutig gegeben, wenn man sich anschaut, wie Israel immer noch die Wirtschaft und den Handel mit Gaza kontrolliert. Es hat für den Gazastreifen und für den Lebensunterhalt der Menschen dort verheerende Folgen.

Natürlich war all dies nach dem Wahlsieg der Hamas 2006 viel einfacher zu rechtfertigen. Nicht nur für Israel, sondern auch für die internationale Staatengemeinschaft, insbesondere für westliche Geldgeber, war es viel leichter, den Gazastreifen zu isolieren, an den Rand zu drängen und dessen Bevölkerung als Verbrecher hinzustellen, um sie mit Strafmaßnahmen zu belegen. Diese kollektive Bestrafung, so wurde behauptet, werde die Menschen in Gaza dazu bewegen, sich gegen das Hamas-Regime zu erheben oder es zu stürzen.

Es war natürlich lächerlich. Die Palästinenser*innen sollten dafür bestraft werden, dass sie die Hamas gewählt hatten. Damit wollte man das Hamas-Regime zu Fall bringen und gleichzeitig den Palästinenser*innen eine Lektion erteilen: Haltet Euch brav an die Vorgaben Israels und des Westens, dann werdet ihr belohnt, so wie eure Landsleute im Westjordanland bzw. wie die Regierung in Ramallah. Die internationale Gemeinschaft hat also einerseits die Menschen im Gazastreifen beschuldigt und bestraft und andererseits die palästinensische Regierung im Westjordanland belohnt. Der Gedanke dahinter war, so wurde immer wieder argumentiert, dass die Menschen in Gaza schon einsehen würden, dass es zu ihrem Besten ist, wenn sie der Hamas den Rücken kehren und Abbas und seiner Regierung zuwenden. Auch wenn diese Argumentation ebenso entwürdigend wie naiv, um nicht zu sagen lächerlich ist.