23.03.2020

Mit zweierlei Maß: Warum bei Corona der Ausnahmezustand herrscht, aber nicht beim Klima

Von: Fabian Scheidler

Deutschland und andere Industriestaaten erlegen ihren Bevölkerungen und ihrer Wirtschaft ein Schockprogramm auf, um die Corona-Epidemie einzudämmen. Dabei werden Maßnahmen ergriffen, die in ihrem Ausmaß ohne Beispiel in der jüngeren Geschichte sind: Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit und die Freiheit der Person werden suspendiert, ebenso das Grundrecht auf Asyl. Große Teile der Wirtschaft werden lahmgelegt, darunter fast die gesamte Kulturbranche, die Gastronomie, der Sport, der Tourismus und sogar – bisher unvorstellbar – die Autoindustrie und der Flugverkehr.

Vergleicht man diese Maßnahmen mit der Reaktion auf eine andere, weitaus schwerwiegendere Krise, nämlich die Bedrohung des Lebens auf der Erde durch Klimawandel und Artensterben, fällt ein deutlicher Kontrast ins Auge: Während sich die Staaten in der Corona-Epidemie als extrem handlungsstark erweisen und für einen höheren Zweck – die Gesundheit ihrer Bürger – auch auf kurzfristige Wirtschaftsinteressen keinerlei Rücksicht nehmen, ist in der Klimafrage seit 40 Jahren so gut wie nichts passiert. Weder liegen verbindliche Reduktionsziele vor, die auch nur im Entferntesten mit dem 2-Grad-Ziel vereinbar sind, noch gibt es einen ernstzunehmenden Plan für den schnellen Umbau der Infrastrukturen und der Ökonomie. Forderungen nach wirkungsvollen Klimaschutzmaßnahmen werden regelmäßig mit dem Verweis abgeschmettert, dass man nicht in die Freiheitsrechte von Bürgern und Unternehmen eingreifen könne. Kurzstreckenflüge verbieten? Unmöglich! SUVs in Innenstädten untersagen? Undenkbar! Kohleausstieg bis 2025? Gefährdet Arbeitsplätze! Fleischkonsum drosseln? Öko-Diktatur! Autokonzerne zum Bau von öffentlichen Verkehrsmitteln umfunktionieren? Kommunismus!

Doch angesichts des Virus ist plötzlich fast alles möglich: Spanien hat quasi über Nacht die privaten Krankenhäuser verstaatlicht, um eine bessere Versorgung sicherzustellen. Finanzminister Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Peter Altmaier haben öffentlich darüber nachgedacht, große Industriekonzerne vorübergehend zu verstaatlichen, um sie vor dem Kollaps zu bewahren. Weltweit werden billionenschwere Rettungspakete auf den Weg gebracht, um die Wirtschaft vor dem Zusammenbruch zu bewahren – Geld, das für einen sozial-ökologischen Umbau angeblich nie da war. Eine sprunghafter Anstieg der Staatsverschuldung, der daraus zwangsläufig resultieren wird, ist plötzlich gar kein Problem mehr, während noch vor wenigen Wochen die „schwarze Null“ eine unantastbare heilige Kuh war.

Diese Kontrast ist umso seltsamer, als die Corona-Epidemie selbst nach den düstersten Prognosen um viele Größenordnungen weniger tödlich ist als ein ungebremstes Klimachaos. Gewiss: In der Pandemie müssen wir Menschen schützen, vor allem die Risikogruppen. Aber warum gilt nicht das gleiche für Klimaopfer? Wenn bei Corona das Vorsorgeprinzip gilt, dann muss es beim Klimaschutz ebenso gelten. Hinzu kommt, dass die wissenschaftliche Basis für eine Einschätzung der Gefährlichkeit von Covid-19 – wie alle seriösen Virologen und Epidemiologen immer wieder sagen – noch sehr dünn ist. Im Falle des Klimas liegen dagegen Jahrzehnte von weltweiter intensiver Forschung vor, die übereinstimmend zu dem Schluss kommt, dass zu zögerliches Handeln Hunderte von Millionen Menschen – wenn nicht mehr – gefährdet.

Wie kommt es zu diesem Kontrast? Warum wird Covid-19 als eine Gefahr identifiziert, die es rechtfertigt, alle lang gepredigten Grundsätze und außerdem unsere Grundrechte plötzlich über Bord zu werfen, während beim Klima seit Jahrzehnten nichts geht? Warum sind die Leben gegenwärtiger und künftiger Klimaopfer so viel weniger wert als die von Menschen, die durch Covid-19 gefährdet werden? Welche ethischen Maßstäbe liegen diesen Entscheidungen zugrunde?

Die erste Antwort darauf ist relativ naheliegend: Klimakatastrophen kommen zunächst schleichend, sie sind ein langfristiges Problem, während unsere politischen und medialen Systeme kurzfristig ausgerichtet sind. Wenn ein Drittel von Bangladesch in einigen Jahrzehnten überschwemmt sein wird, wenn große Teile des mittleren Ostens und Afrikas durch Überhitzung nicht mehr bewohnbar sein werden und wenn auch die deutschen Wälder vollends vertrocknen, dann sind fast alle Politiker, die heute die Weichen stellen (oder eben nicht stellen), längst nicht mehr im Amt. Während in der Corona-Epidemie jeder Politiker, der es wagt, extreme Abschottungsmaßnahmen infrage zu stellen, rasch als unverantwortlicher Gefährder von Menschenleben dasteht und um seine Karriere fürchten muss, geschieht denen, die die Klimakrise aussitzen, erst einmal gar nichts. Anders als in der Epidemie werden sie auch von den meisten Medien keineswegs als Zauderer und Gefährder an den Pranger gestellt. Spitzenpolitiker können in Interviews und Talkshows ungestraft darüber schwadronieren, dass man einen Ausgleich zwischen Wirtschaftsinteressen und Klimaschutz finden müsse und bloß nicht zu schnell handeln dürfe – während tatsächlich eine solche Kompromisslogik angesichts der unerbittlichen Physik der Erdatmosphäre vollkommen sinnlos und unverantwortlich ist. Die zweite Antwort reicht tiefer. Die Opfer des Klimachaos sind vor allem die ärmsten Menschen auf der Erde, insbesondere im Globalen Süden. Das Corona-Virus dagegen macht vor den Schranken von Klasse und Nationalität nicht Halt. Auch reiche weiße Männer in den Industriestaaten sind gefährdet, vor allem wenn sie alt sind. Der Kontrast zwischen der Corona- und der Klimakrise offenbart einen strukturellen Rassismus im System, der die Kolonialgeschichte in die Zukunft verlängert: Um den Lebensstil der Reichen und überwiegend Weißen aufrechtzuerhalten, werden die Armen und überwiegend Nicht-Weißen geopfert. Und während Tausende von Kameras rund um die Uhr Bilder von den Corona-Intensivstationen senden und uns ein Gefühl von Weltuntergang vermitteln, während Bürger angesichts dieser Bilder jede Einschränkung ihrer Rechte und auch die Untergrabung ihrer wirtschaftlichen Existenz in Kauf nehmen, schert sich um die vielen Millionen Bewohner des Mekong-Deltas, denen bereits jetzt das steigende Salzwasser ihre Ernten zerstört, kaum ein Mensch. Der wirkliche Weltuntergang bleibt auf diese Weise unsichtbar.

Der ins Auge springende Kontrast zwischen dem Umgang mit der Klimakrise und der Corona-Epidemie bringt einige wichtige Lehren und sogar politische Chancen mit sich. Der Staat zeigt derzeit täglich, dass er weitaus handlungsfähiger ist, als lange behauptet wurde, und sich auch mächtige Wirtschaftsbranchen beugen müssen, wenn Politik, Medien und Bürger gleichermaßen einschneidende Maßnahmen befürworten. Da die Industrieländer, wie die Klimawissenschaft zeigt, in den nächsten zehn Jahren ihre Treibhausgasemissionen um 80 Prozent senken müssen, um eine Chance zu haben, global unter 2 Grad zu bleiben und weitere Kippunkte im Erdsystem zu vermeiden, braucht es einen raschen und tiefgreifenden Umbau unserer gesamten Ökonomie und unserer Infrastrukturen. Dabei ist es nicht mit Elektroautos und einer CO2-Steuer getan; es braucht vollkommen andere Verkehrssysteme, die nicht auf Individualverkehr, sondern auf öffentliche Transportmittel setzen, andere Siedlungsstruktren, eine massive Einschränkung des Flugverkehrs, dezentrale erneuerbare Energien und zugleich eine deutliche Senkung des Energieverbrauchs in allen Bereichen. Wir wissen jetzt, dass Staaten so etwas sehr schnell auf den Weg bringen können, wenn sie wollen, und dabei auch, wenn es sein muss, in die Eigentumsrechte von großen Unternehmen eingreifen können (wie sie das ja auch in der Finanzkrise 2008 taten).

Eine entscheidende Frage für die Zukunft des Planeten wird sein, wie die billionenschweren Rettungspakete für die Wirtschaft, die derzeit verhandelt werden, aussehen. Werden die schmutzigsten Industrien, die für das Klimachaos verantwortlich sind, wie die Flugzeugbranche, die Autoindustrie und viele mehr, gerettet, um danach ihr Business-as-usual fortzusetzen? Oder werden diese Gelder benutzt, um die nicht zukunftsfähigen Branchen zu konvertieren? Warum zum Bespiel nicht für die Mitarbeitenden von Airlines massiv neue Stellen bei der Deutschen Bahn schaffen, wo in den vergangenen Jahrzehnten Hunderttausende Arbeitsplätze abgebaut wurden? Warum nicht Rettungspakete für Autokonzerne daran koppeln, dass sie ihre Produktion so rasch es technisch geht auf Ein-Liter-Autos, kleine Elektroautos und vor allem öffentliche Verkehrsmittel umbauen? Warum nicht massiv in die öffentliche Gesundheitsversorgung investieren, die lange kaputtgespart und privatisiert wurde, und damit auch für weitere Pandemien sowie für kommende Hitzewellen gerüstet zu sein? Und warum nicht, wie einst unter dem New Deal in den USA, Einkommens- und Vermögenssteuern für die Reichsten auf 70 Prozent und mehr erhöhen, damit sie ihren fairen Anteil an diesem gesellschaftlichen Umbau leisten?

All das ist, wie wir gerade sehen, keine Utopie, sondern möglich. Aber es kann nur Wirklichkeit werden, wenn sich Bürgerinnen und Bürger und die gesamte Zivilgesellschaft aus der gegenwärtigen Schreckstarre befreien und aktiv werden, um in die so folgenreichen Entscheidungsprozesse der nächsten Wochen einzugreifen. Einen Shutdown der Demokratie dürfen wir nicht zulassen. Im Gegenteil: Jetzt ist die Zeit des Handelns. Wenn nicht auf der Straße, dann im Netz.

 

Foto: Masud Ananda (Creative Commons BY-ND 2.0)

Dieser Beitrag wird in gekürzter Fassung auch in der Taz vom 30.3.2020 und auf Taz.de am 29.3.2020 veröffentlicht.

Die englische Fassung wurde  unter dem Titel „The Wrong Apocalypse“ von dem US-Magazin ZNet veröffentlicht.

Fabian Scheidler ist freischaffender Publizist und Mitbegründer des unabhängigen Nachrichtenmagazins Kontext TV. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher „Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheitenden Zivilisation“, „Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen“ und, als Herausgeber, „Der Kampf um globale Gerechtigkeit“. www.fabian-scheidler.de