05.10.2021

Nach der Wahl ist vor der Rebellion

Von: David Goeßmann

 

Politische Aufbruchsstimmung liegt in der Luft. Es werden Selfies gemacht, Ärmel hochgekrempelt und Hoffnung verbreitet. Viele sind erleichtert über den Machtverlust der Unionsparteien, die 16 Jahre lang das Land blockierten.

Natürlich sollte in die nächste Bundesregierung so viel Klimaschutz hineinkommt wie möglich. Es wäre daher gut, wenn die Grünen in der neuen Regierung eine starke Rolle einnehmen und sich mit vielen ihrer Vorstellungen durchsetzen würden.

Aber wir sollten ehrlich bleiben: Der Rahmen, in dem ein zukünftiger Koalitionsvertrag ausgehandelt werden wird, ist vollkommen ungeeignet, um das Schlimmste zu verhindern. Denn keine der in Frage kommenden Regierungsparteien inklusive der Grünen hat einen Plan, der 2-Grad-kompatibel ist. Es werden daher wenig mehr als Korrekturen zum bisherigen Kurs herauskommen. Rhetorisch wird das Ganze als „Schritt in die richtige Richtung“ verkauft. Nach dem Motto: Wir machen mehr als die Regierung zuvor.

Aber wie Greta Thunberg treffend sagt: Gefährlich sind Illusionen, weil sie die Gesellschaft einschläfern. Denn zwischen mehr tun und genug tun liegt die Katastrophe. Es ist bereits 5 nach 12, wie die Energieexpertin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zu Recht feststellt. Die Zeit der Rhetorik und Trippelschritte ist lange abgelaufen. 2030, spätestens 2035 muss Schluss sein mit Treibhausgasen in den Industriestaaten, um überhaupt noch eine Chance zu haben, nicht über eine Erderhitzung von 2 Grad Celsius zu gelangen. Das bedeutet: Jedes Jahr 10 bis 12 Prozent an Reduktion bei den Emissionen. Das ist eine Herkulesaufgabe, eine historische Energierevolution, die sofort starten muss und alternativlos ist. Im Coronajahr 2020, als die Wirtschaft förmlich stillstand, hat Deutschland 8,7 Prozent gemindert. Daran kann man erkennen, was ansteht. Und noch ein Downer: Dieses Jahr werden die Treibhausgase in Deutschland wieder steigen. Die starke Abweichung vom Sollzustand muss in den verbleibenden Jahren zusätzlich gemindert werden.

Was heißt das konkret? In fünf bis sieben Jahren muss die Kohleverstromung und wenig später auch die Gasverstromung beendet werden. Nötig ist eine Vervielfachung beim Ausbau der Erneuerbaren. Überall, wo genug Wind weht, braucht es Windräder. Auf alle Dächer müssen Photovoltaikanlagen gebracht werden. Dazu braucht es den flächendeckenden Einbau von Wärmepumpen für die Klimatisierung der Häuser oder emissionsfreie Fernwärme. In Autos dürfen in den nächsten Jahren keine Verbrennungsmotoren mehr eingebaut werden, am besten ab sofort nur noch Batterien, um den Straßenverkehr bis 2030 zu dekarbonisieren. Der LKW-Verkehr gehört auf die Schiene, während die Innenstädte von unnötigem Autoverkehr befreit werden müssen. Züge sollten Inlandsflüge ersetzen. Massentierhaltung, Kunstdüngereinsatz, Pestizide und Herbizide müssen in den nächsten zehn Jahren möglichst der Vergangenheit angehören, um die Emissionen im Agrarbereich mindern zu können. Dazu muss der Schutz von Wäldern und Mooren kommen, die Produktion von grünem Wasserstoff und anderen emissionsfreien Treibstoffen für die Stahlproduktion, Schifffahrt und den verbleibenden Flugverkehr. Wir benötigen zudem eine emissionsfreie Materialwirtschaft.

Hans-Josef Fell, Mitautor des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes und Präsident der Energy Watch Group, fordert nach der Wahl daher: Keine Subventionen mehr für fossile Energien, keine bürokratischen Hürden beim Ausbau der Erneuerbaren und gezielte Investitionen in systemdienlichen Ökostrom. Der Präsident des Erneuerbaren-Verbands Eurosolar Peter Droege warnt zudem vor den Fallstricken von „Klimaneutralität“. Der Begriff täusche darüber hinweg, dass man „wesentlich schlagkräftigere Klimaschutzmethoden“ benötige. Ohne eine generelle Mobilmachung für die „regenerativen Dekade“ werde das verbleibende 2-Grad-Treibhausgasbudget gerissen werden. Eurosolar fordert die Einführung eines „Klimaverteidigungshaushalts“ für den rapiden Ausstieg aus den fossilen Energien in Höhe der Pandemie-Stimulusgelder (16 Billionen US-Dollar weltweit sind dafür vorgesehen), ein Ende von Kriegen und die Einführung von Klimanotdiplomatie, eine komplette Umstrukturierung der fossilen Energien und das Ende fossiler Subventionen, die Schaffung regenerativer Arbeitsplätze in neuen Branchen, die Einstufung von Verbrennungsressourcen als „tödlich“, ein Vorantreiben von Biosequestrierung (Wälder, Moore), Speicherung von Kohlendioxid in Holz- und Carbonprodukten sowie die Einrichtung von nachhaltigen Zukunftsbanken.

Doch das und vieles mehr wird nicht Gegenstand bei den Verhandlungen für eine neue Regierung sein. Nehmen wir die fürs Klima günstigste Variante, eine Ampelkoalition. Die Zielmarke für „Klimaneutralität“ der Grünen liegt bei 2040. Die SPD peilt 2045 an. Die FPD vertraut auf den lieben Gott, also den Markt. SPD und FDP haben zusammen über 37 Prozent der Stimmen erhalten, die Grünen knapp 15 Prozent. Also kann man sich ausrechnen, was sich bei der Zielmarke bewegen wird.

Bei den Maßnahmen zur Emissionsreduktion sieht es noch düsterer aus. Eine Studie des DIW hat die Angebote der Parteien untersucht. Keine der Parteien erreicht mit den Angeboten überhaupt das bisherige Ziel der Bundesregierung, bis 2030 auf minus 65 Prozent zu gelangen, was an sich schon viel zu wenig ist. Auch die Grünen sind mit ihren Vorschlägen davon entfernt.  SPD und FDP sogar weit. Wenn bei den Maßnahmen also nicht deutlich nachgelegt wird und sogar mehr getan wird, also die Grünen anbieten, geht der Kurs bei der Dekarbonisierung eher Richtung Mitte des Jahrhunderts.

Aber eine Steigerung dessen, was die Grünen beim Klimaschutz anbieten, ist wenig wahrscheinlich. Schauen wir uns einige zentrale Streitpunkte an.

Kohleausstieg: Die Grünen wollen 2030 raus, die SPD 2038. Die FDP macht keine Aussage dazu. Der Ausstieg muss vor 2030 liegen, wie gesagt, um im Budget zu bleiben. Kaum denkbar, dass das bei den Dreierverhandlungen herauskommt.

Gasausstieg: Hier wird es vor allem um die neu gebaute Ostseepipeline von Russland nach Lubmin gehen, besser bekannt als Northstream II. Sie ist gerade fertig gestellt worden und soll bald ans Netz gehen, um zusammen mit dem ersten Röhrenstrang über hundert Millionen Kubikmeter Erdgas jedes Jahr auf die deutschen und europäischen Märkte strömen zu lassen. Eine Treibhausgasbombe. Die Grünen sind dagegen, SPD und FDP dafür. Die neue, alte SPD-Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern Manuela Schwesig,  gerade gestärkt durch den klaren Wahlsieg bei den Landtagswahlen, ist Verfechterin von Northstream II. Kaum vorstellbar, dass die Grünen sich hier durchsetzen können, wenn es nicht zu massiven Protesten kommt.

Dazu muss natürlich auch ein Enddatum für die Gasverstromung und Gasheizungen kommen, was bisher fehlt, auch bei den Grünen. In Ingoldstadt hat der bayrische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger im Sommer offiziell den Grundstein für das neue Gaskraftwerk Irsching 6 mit 300 Megawatt Leistung gelegt. Es soll im Oktober 2022 von Uniper in Betrieb genommen werden. Beim Wiederaufbau des Ahrtals nach den Überschwemmungen werden die Ortschaften feierlich wieder ans Erdgasnetz angeschlossen. Erneuerbaren-Initiativen vor Ort haben dagegen einen Plan aufgestellt, wie die 30 Milliarden Euro Wiederaufbauhilfen genutzt werden könnten, das von der Klimakrise getroffene Tal bis 2030 auf 100 Prozent Erneuerbare zu bringen. Doch das stößt bisher weitestgehend auf taube Ohren.

Dann ist da noch der liebe Verkehr, bei dem sich die Grünen vor fast einem Vierteljahrhundert eine rote Nase holten. Man erinnere sich an die Fünf-Mark-pro-Liter-Benzin-Kampagne. Das hat die Grünen in Sachen Verkehrswende handzahm gemacht. Im zurückliegenden Bundestagswahlkampf ließ die 16-Cents-Kampagne die Benzinpreiswut nur kurz am Horizont auflodern, um die Grünen auf Linie zu bringen. Daher jetzt das vorsichtige Agieren der Sondierer. Es heißt schon vor den eigentlichen Verhandlungen vorsorglich in Hinsicht auf ein Tempolimit 130 von Fraktionschef Anton Hofreiter: „Ich halte nichts davon, einzelne Maßnahmen zur Bedingung zu machen, das verkompliziert die Verhandlungen und wird unserer Aufgabe nicht gerecht“.

Der grüne Vorschlag, erst ab 2030 keine neuen Autos mit Verbrennungsmotoren mehr zuzulassen, ist zudem unvereinbar mit dem deutschen Restbudget. Es würden dann 2040 noch Benziner und Dieselfahrzeuge auf deutschen Straßen herumfahren und CO2 produzieren. Das geht schlicht nicht auf. Die Grünen wollen zudem bis 2030 wie die SPD nur gut 15 Millionen Elektroautos auf deutsche Straßen bringen, so die Zielmarke. Es wäre nicht einmal ein Drittel von den heute fast 50 Millionen PKWs in Deutschland. 35 Millionen Autos (gemessen an dem heutigen Bestand) würden nach diesem Plan also noch 2030 tagtäglich Treibhausgase emittieren, bei Halbierung der Flotte wären es immer noch zehn Millionen. Allein damit haben die Grünen das 2-Grad-Ziel aufgegeben. Die FDP glaubt bei der Verkehrswende wie auch sonst an den Marktgott und lehnt jegliche Eingriffe in die „Schöpfung“ ab.

Schließlich die Agrarwende: Die Grünen wollen bis 2030 30 Prozent der Landwirtschaft auf Bio umstellen. Bei SPD und FDP gibt es keinen Plan für den Umstieg. Der SPD-Ministerpräsident von Niedersachsen Stephan Weil, einem Bundesland mit jeder Menge intensiver Agrarwirtschaft, Massentierhaltung und nur fünf Prozent ökologischer Landwirtschaft, sagte in der ARD, dass man in diesem Punkt mit den Grünen unterschiedlicher Meinung sei. Auch in diesem Sektor ist wenig mehr als ein Kompromiss vom Kompromiss vom Kompromiss zu erwarten.

Weitere Bremsklötze lauern im Parlament. Die CDU/CSU und AfD werden von der Oppositionsbank boykottieren, wo es geht, und Stimmung über Bande mit konservativen Zeitungen und Wirtschaftsverbänden gegen die Energiewende machen. Bei den Linken fragt man sich nach dem Wahldesaster, ob der Einsatz für Klimaschutz nicht viele Wähler*innenstimmen gekostet habe. Sie haben nach dem knappen Einzug zudem kaum noch parlamentarischen Einfluss.

Wir sitzen also, um es salopp zu sagen, weiter in der Scheiße, auch wenn nicht mehr ganz so tief wie zuvor. Wie kann das aber sein? Sollte nicht alles anders werden? Haben die Klimaproteste der letzten Jahre, das Alarmschlagen von Wissenschaft und Gesellschaft, die Klimakrise nicht ganz oben auf die Agenda gebracht?

Offensichtlich war die Wahl keine Klimawahl. Die meisten Leute haben mit der SPD, FDP, CDU/CSU und AfD Parteien gewählt haben, die den Planeten verbrennen wollen, auch wenn das graduell unterschiedlich ausgeprägt ist. Die Wähler*innen haben zugleich Parteien ihre Stimme gegeben, die auf dem sozialen Auge blind sind, um es freundlich auszudrücken. Die wachsende Ungleichheit der Lebensverhältnisse, Armut und gesellschaftliche Entfremdung wird von keiner dieser Parteien überhaupt als zentrales Problem wahrgenommen.

Grüne und Linke, die mehr Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit anbieten, haben zusammen genommen nicht viel mehr Stimmen bekommen als vor vier Jahren. Zudem ist es ein großer Verlust, dass Marco Bülow als Direktkandidat für Die Partei in Dortmund nicht wieder gewählt wurde. Seit 2002 hat er als SPD-Abgeordneter für eine progressive Politik und Klimaschutz gekämpft und dabei in seinem Wahlkreis, oft mit Abstand, die meisten Stimmen geholt. Diesmal nicht. Ebenfalls mehr als ernüchternd: Die Klimaliste Berlin erhielt nur 0,4 Prozent der Stimmen bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin. Es ist die einzige Partei, die kompromisslos auf Klimaschutz setzt und einen durchgerechneten Plan zur Dekarbonisierung Berlins bis 2030 vorgelegt hat.

Über 70 Prozent der zur Wahl Gegangenen haben am Ende für das Weiter-So gestimmt. Sie haben das aus sicherlich unterschiedlichen Gründen getan. Es sind traditionelle Parteibindungen, Sympathien bzw. Antipathien für Kandidatin*innen, der Glaube an die Regierungsfähigkeit, Stabilität und politische Kontinuität etablierter Regierungsparteien, strategische Überlegungen, Zufriedenheit mit der eigenen, politisch garantierten Situation (vor allen in den oberen Schichten), aber auch zum Teil Frust, der die Klimaleugner-AfD als Rettungsanker erscheinen lässt.

Aber das alles erklärt nicht das Wahlergebnis. Die Wähler*innen zeigten sich ja in letzter Zeit durchaus bereit, Neues auszuprobieren und Klima zum Entscheidungskriterium zu machen. Bei der Europawahl im Klimaprotestjahr 2019 wurden die Klimaschutzblockierer-Parteien abgestraft und die, die sich für mehr Klimaschutz stark machen, konnten deutliche Zugewinne verzeichnen. Vor der Bundestagswahl sah es sogar danach aus, als ob die Grünen stärkste Kraft in Deutschland werden könnten. CDU/CSU verloren in wenigen Wochen massiv an Wählerstimmen. Die Frage ist also, warum der Block Grüne-Linke, der mit mehr Klimaschutz und Gerechtigkeit in den Wahlkampf gezogen ist, gegenüber dem Block Union-SPD, der für Weiter-So steht, am Ende kaum zulegen konnte und der Block FDP-AfD, für den Klimaschutz ein Fremdwort ist, stabil blieb. Warum wanderten die Wähler*innen nicht von einer Politik des Planeten-Verbrennens  zu einer des Planeten-Schützens? Was ist da schief gelaufen?

Ein Grund dafür ist, dass die Bürger*innen über die letzten Jahrzehnte beim Klimaschutz desinformiert und immer wieder gegen einen Wechsel zu Erneuerbaren Energien aufgebracht wurden. Mit Propaganda-Feldzügen wie Windradwahn, Luxusstrom, Klimaschutz als Belastung oder „China ist an allem schuld“ wurde immer wieder Stimmung gegen die deutsche Energiewende gemacht. Seit die Klimakrise die Weltbühne Ende der 80er Jahre betrat, ist zudem kein Wahlkampf von Klimaschutzpolitik geprägt gewesen. Wenn eine Partei die Krise zum Thema machte und etwas mehr verlangte, siehe die Grünen bei der Bundestagswahl 1998, wurde sie in der Öffentlichkeit abgestraft.

Der real existierende Kurs Klimakollaps von Deutschland wie aller Industriestaaten wurde zugleich unter den Teppich gekehrt, während man die Bundesregierung kontrafaktisch zum Klimaschutz-Vorreiter stilisierte. Daher verstehen die meisten Wähler*innen in Deutschland heute nicht, warum wir in der „misslichen“ Lage sind. Sie verstehen nicht, warum die alten Parteien ungeeignet sind, uns vor dem Desaster zu retten und weiter die Wende blockieren. Sie verstehen nicht und können es nicht, dass eine leichte Kurskorrektur die Katastrophe längst nicht mehr verhindern wird. Hätten die Journalist*innen ihren Job gemacht, könnte Deutschland längst ohne Kohle, Gas und Öl seine Energie erzeugen. Dann ständen wir heute nicht so nah am Rand des Abgrunds.

Die Medien und intellektuellen Eliten im Land versagen zudem weiter, trotz einiger Verbesserungen, die Bevölkerung angemessen zu informieren und Alarm zu schlagen. So war Klimapolitik im „Klimawahlkampf“ 2021 trotz aller Bekundungen ein Nebenthema. Das Notwendige wurde verschwiegen, das Falsche als Lösung präsentiert, die PR für bare Münze verkauft und das Viel-zu-Wenig als Aufbruch hochstilisiert. Man musste nur das Radio anschalten, die Zeitung aufschlagen, die Abendnachrichten schauen: Überall die gleichen Beruhigungen und Halbwahrheiten, wobei meist am Thema vorbeigeschaut wurde.

Die Grünen konnten im Wahlkampf durch mediale Verzerrungen und regelrechte Kampagnen von 26 Prozent auf 15 Prozent gestutzt werden. Die Linken wurden wie üblich gebasht, wo es nur ging. Der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Olaf Scholz, der die Energiewende in Hamburg, aber auch in der Bundesregierung immer aktiv verhindert hat und weiter an einem Kohleausstieg 2038 festhält, wurde, als die CDU unter Armin Laschet in den Umfragen absackte, von der Presse aus dem SPD-Tal von 14 Prozent auf fast 26 Prozent zum Kanzler raufgeschrieben. Bei Cum-Ex, Wirecard, staatsanwaltlichen Durchsuchungen im Bundesfinanzministerium kurz vor der Wahl, sozialer und ökologischer Leere der SPD-Führung schauten die Journalisten wohlwollend weg. Scholz konnte derart als Stabilitätsanker mit Regierungserfahrung gegen Laschet aufs Podest gehoben werden. Der Rest ist Geschichte.

Hätten die Medien Klimapolitik ins Zentrum gestellt, die Angebote wissenschaftlich eingeordnet, die Parteien und ihre Kandidat*innen einer 2-Grad-Prüfung unterzogen, dann wäre die Wahl anders ausgegangen. Aber das geschah nicht. Die TV-Triells und Talkshows vor der Bundestagswahl gingen zwar wegen der Proteste und Forderungen zum ersten Mal nicht gänzlich an der Klimapolitik vorbei. Doch es war eine Farce. Anstatt die Klimaversager und Blockierer unter Druck zu setzen, wurden die, die den Kurs ändern wollen und mehr anbieten, als Gefahr für den deutschen Wohlstand, als Maximalisten und unsoziale Ökos diffamiert.

Dazu garnierte man Fake-News wie in der 20-Uhr-Tagesschau nach dem historischen Klimastreik kurz vor der Wahl. In den ARD-Abendnachrichten wurde aus dem gesellschaftlichen Erdbeben, eines von vielen Klimabeben seit drei Jahren, ein belangloses Ereignis ohne weitere Bedeutung fabriziert. Den Tagesschau-Zuschauer*innen wurde mitgeteilt, dass Zehntausend zu einer Demo aufgebrochen seien sollen, tatsächlich waren es über 600.000 in Deutschland, weltweit 800.000 Protestierende. In der Tagesschau wurde ein halbleerer Platz vor dem Reichstag präsentiert, offensichtlich vor dem Start der Demonstration gefilmt. In Wahrheit waren Plätze und Straßen in vielen deutschen Städten am Nachmittag geflutet von Menschen,100.000 allein in Berlin, die kraftvoll 1,5-Grad, echten Klimaschutz und eine radikale Wende fordern. Zudem kein Wort über die prominente Unterstützung für die Proteste, keine Folgeberichterstattung, dafür Problematisierung des Schulschwänzens. Statt den Widerstand gegen das Weiter-So einzufangen oder gar die politischen Planeten-Verbrenner auf den heißen Stuhl zu setzen, verglich der Journalist Hajo Schumacher im RBB/Radio Eins die Klima-Hungerstreikenden in Berlin sogar mit RAF-Terroristen. Im ZDF schwurbelt zugleich die Umweltredaktion immer wieder gegen Windräder wie Elektroautos, während der Redaktionsleiter in Live-Schalten Investitionen in ausländische Kohlekraftwerke als Klimaschutz verkaufen darf.

Das Versagen der politischen und intellektuellen Elite beim Klimanotwendigen hat seine Wirkung nicht verfehlt, was am Wahlergebnis abgelesen werden kann. Aus der Klimawahl wurde eine Anti-Klimawahl. Die Wähler*innen wurden mit Kampagnen von den Grünen weggetrieben und Richtung SPD gelenkt. Es ist ein politischer Skandal mit planetaren Effekten. Aber wo kein Kläger, da kein Richter.

Der politische Normalbetrieb geprägt von Parteienhierarchien, Lobbydruck und medialer Desinformation zeigt sich im Klimanotstand weiter als unfähig, den wissenschaftlichen Vorgaben gemäß zu handeln. Die Lösungen liegen alle auf dem Tisch, die Bereitschaft in der Bevölkerung und auch in der Wirtschaft ist vorhanden, die Erneuerbaren sind längst die billigste Energieform. Die Frage ist, wie die Gesellschaft nun auf das reagiert, was als Schritt in die richtige Richtung ausgegeben wird und tatsächlich, trotz aller Aufbruchsstimmung, ein Schritt näher an den Rand des Abgrunds ist. Wird sie es schlucken und zur Tagesordnung übergehen? Wird man sich erneut von Versprechungen einlullen lassen? Werden Bewegungen den Mut aufbringen, im Zweifel auch gegen die Grünen zu mobilisieren? Was werden die Umweltverbände, Kirchen und Gewerkschaften machen? Werden sich die Bürger*innen ins Schneckenhaus zurückziehen? Oder werden sie rebellieren und sich an die Seite derer stellen, die das Ruder rumreißen wollen?

Wenn Regierung und Parlament bei einer derart existenziellen und drängenden Krise nicht das Notwendige tun, dann müssen Bürger*innen Widerstand leisten. Die Massenmedien fallen mit wenigen Ausnahmen als Verbündete bei der politischen Durchsetzung der Energierevolution aus, auch wenn sie schöne Worte im Munde führen. Sie verbleiben auf der Seite der Bremser und Verlangsamer, solange die über die Macht verfügen, den Kurs vorzugeben. Daher muss auch Druck auf die Medien ausgeübt werden. Hierfür gibt es erste Beispiele wie „Klima vor Acht“, Journalistennetzwerke und diverse Programmbeschwerden. Ohne Informations- und Aufklärungskampagnen wird es nicht gehen. Die Bürger*innen sollten dabei da abgeholt werden, wo sie sind, und nicht da, wo man sie gerne haben möchte.

Am Braunkohletagebau von RWE in Garzweiler verteidigen Aktivist*innen mit zivilem Ungehorsam im Moment das Dorf Lützerath vor Kohlebaggern, viele wurden dabei fest- oder in längerfristigen Gewahrsam genommen. Es laufen Verfahren gegen sie wegen Hausfriedensbruch. In der Vergangenheit wurden bereits Gefängnis- und hohe Geldstrafen gegen Kohle-Besetzer*innen verhängt. Ende Oktober steht der nächste Klimastreik an. Wenn die Gesellschaft nicht aufwacht, Menschen mit Einfluss ihren Einfluss nicht nutzen, sich solidarisieren mit denen, die für das Notwendige kämpfen, werden wir als Gesellschaft die Verantwortung übernehmen müssen für das, was nach uns kommt.