07.12.2021

Afghanistan: Die Verbrechen des Westens und die Not, die bleibt

Von: Fabian Scheidler

 

Die kopflose Flucht der NATO-Truppen aus Afghanistan und die Not, die sie dort zurücklassen, sind nur das letzte Kapitel einer verheerenden Geschichte, die im Oktober 2001 begann. Damals verkündete die US-Regierung, unterstützt von der rot-grünen Koalition in Berlin unter Gerhard Schröder, dass der Terror des 11. September durch einen Krieg in Afghanistan beantwortet werden sollte. Dabei war keiner der Attentäter Afghane. Und die damalige Taliban-Regierung bot den USA sogar eine Auslieferung von Osama bin-Laden an – ein Angebot, das die US-Regierung mit unerfüllbaren Forderungen beantwortete.[1] Über Saudi-Arabien, das Herkunftsland von 15 der 19 Terroristen, wurde praktisch kein Wort verloren. Im Gegenteil: Mitglieder der Bin-Laden Familie wurden aus den USA in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ausgeflogen, damit sie nicht verhört werden konnten. Nachdem im Jahr 2016 geschwärzte Teile der Untersuchungskommission zum 11. September freigegeben wurden, stellte sich heraus, dass hochrangige Mitglieder der saudischen US-Botschaft vor den Anschlägen Kontakte zu den Terroristen unterhalten hatten. Konsequenzen? Keine. Es sind ja unsere Verbündeten.

So wurde Afghanistan angegriffen, nachdem bereits das britische Kolonialreich und die Sowjetunion dort nur Leid und Elend gebracht hatten und schließlich geschlagen abziehen mussten. Im Kalten Krieg hatten die USA und Saudi-Arabien am Hindukusch im großen Stil Islamisten gegen die Sowjetunion unterstützt. Nun wurden die ebenfalls islamistischen Warlords der „Nordallianz“ zu den neuen Verbündeten. Der Einsatz der Bundeswehr, der die US-Truppen flankierte, wurde in den Mythos gehüllt, es handele sich um eine humanitäre Intervention. Dabei arbeitete die Bundeswehr ebenfalls mit den Warlords Hand in Hand. Das berichtete zum Beispiel der renommierte investigative Journalist Marc Thörner, der damals als einziger deutscher Reporter vor Ort nicht in die Bundeswehr eingebettet war, sondern unabhängig berichtete.[2] Die schweren Menschenrechtsverletzungen, die von der Bundeswehr auf diese Weise gedeckt wurden, und die „Aufstandsbekämpfung aus der kolonialen Mottenkiste“ würden, so Thörner, die Bevölkerung immer weiter gegen den Westen aufbringen und den Fundamentalismus stärken. Das Ergebnis sehen wir heute: den Triumph der Taliban im ganzen Land.

Sowohl die US-Truppen als auch die Bundeswehr und anderer Verbündete stützten nicht nur Kriegsverbrecher vor Ort, sondern verübten auch selbst schwere Verbrechen. Keiner der Täter wurde dafür je vor Gericht verurteilt. Beispiel Kundus: Hier bombardierte die Bundeswehr im September 2009 einen überwiegend zivilen Treck, mit über einhundert Toten und Schwerverletzten, darunter Kinder. Die Verfahren gegen die Hauptverantwortlichen, Oberst Georg Klein und Verteidigungsminister Jung (CDU), endeten mit Freisprüchen. 2010 veröffentlichte WikiLeaks 76.000 bis dahin geheime Dokumente über den Krieg, die Hinweise auf Hunderte weitere Kriegsverbrechen enthielten. Doch statt diesen Verbrechen nachzugehen und die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen, wurde der Bote, Julian Assange, verfolgt. Heute sitzt er, lebensgefährlich erkrankt, in einem britischen Untersuchungsgefängnis und muss fürchten, an die USA ausgeliefert zu werden, wo ihm lebenslange Haft unter unmenschlichen Bedingungen droht. Der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, kam nach eingehender Untersuchung des Falles zu dem Schluss, dass Assange von westlichen Regierungen systematisch gefoltert worden sei und wird.[3] Die großen Medien, die mit den Leaks ihres Journalistenkollegen viel Aufmerksamkeit ernteten und Geld verdienten, haben ihn inzwischen weitgehend fallen gelassen. Und damit auch die Verteidigung der Pressefreiheit, die gerade bei Fragen von Krieg und Frieden so entscheidend ist. Der Journalist gefoltert und die Kriegsverbrecher auf freiem Fuß – so sehen die westlichen Werte in der Praxis aus.

Von Anfang an wurden all diejenigen, die vor dem Afghanistaneinsatz warnten, als naive Pazifisten lächerlich gemacht oder gar beschuldigt, sich der humanitären Verantwortung zu entziehen und damit den Islamisten in die Hände zu spielen. Doch heute ist es endgültig offensichtlich: Die angeblich humanitäre Operation hat das Land nur weiter ins Elend gestürzt und die Islamisten gestärkt. Wie auch im Irak, wie auch in Libyen, wie auch in Mali. Es ist an der Zeit, die Interventionsdoktrin, die seit 2001 unter dem wohlklingenden Titel „responsiblility to protect“ vermarktet wurde, endgültig zu beerdigen und als das zu brandmarken, was sie von Anfang an war: ein neokoloniales Projekt.

Statt weiterer militärischer Interventionen könnte man zum Beispiel damit anfangen, den Terrorsponsor Saudi-Arabien finanziell trockenzulegen und sämtliche Waffenexporte dorthin zu unterbinden. Es würde sich auch lohnen, das Projekt einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen und Mittleren Osten voranzubringen, die – nach dem Vorbild der Entspannungspolitik der KSZE im Europa des Kalten Krieges – eine neue zivile Sicherheitsarchitektur für die gesamte Region auf den Weg bringen könnte.

Das Afghanistan-Debakel sollte auch Anlass sein, die enorme Ausweitung des deutschen Militärbudgets in den letzten Jahren infrage zu stellen, die ja nicht zuletzt mit Auslandseinsätzen begründet wurde. Allein von 2015 bis 2020 ist der Militärhaushalt von 40 auf 52 Mrd. € gestiegen, ein Zuwachs um satte 30 Prozent. Dieses Geld wird dringend für Aufgaben gebraucht, die die Welt wirklich voranbringen, vor allem für den Klimaschutz und den sozial-ökologischen Umbau. Das Militär dagegen hat nicht nur friedenspolitisch eine düstere Bilanz, sondern ist auch einer der größten Treibhausgasemittenten der Erde. Statt an der absurden NATO-Vorgabe von zwei Prozent des BIP für das Militär festzuhalten, ist es an der Zeit für eine Verschlankungskur der Bundeswehr.


[1] Die USA forderten eine Auslieferung binnen 24 Stunden – was die Taliban aus logistischen Gründen unmöglich leisten konnten. Elmar Brok, damals Vorsitzender des auswärtigen Ausschusses des Europaparlaments und Vermittler zwischen  den USA und den Taliban, sagte später: „Hätte man diese Möglichkeit doch wahrgenommen (...), damit wäre viel Leid erspart geblieben." https://www.spiegel.de/politik/ausland/terrorismus-wollten-die-taliban-bin-laden-ausliefern-a-302730.html