Trotz Rekordfluten wie jüngst in Houston und extremer Dürre in vielen Teilen der Welt, von Italien bis Somalia, ist der Klimawandel im Bundestagswahlkampf kein Thema. In Deutschland steigen die Treibhausgasmissionen seit 2015 wieder, statt zu sinken, vor allem durch den boomenden Auto-, LKW- und Flugverkehr. Doch selbst bei den Debatten um Dieselgate, die Pleite des Autobahnbetreibers A1 Mobil und den Berliner Skandalflughafen BER bleibt die Verbindung zwischen Verkehr und Klima aus der öffentlichen Wahrnehmung ausgeblendet. Kontext TV geht der Frage nach, welche Rolle die Auto- und Flugzeuglobby dabei spielt, warum die Deutsche Bahn das unbeliebteste deutsche Unternehmen ist und wie eine zukunftsfähige Verkehrswende aussehen könnte. Im letzten Teil beleuchtet die Sendung außerdem ein weiteres verdrängtes Thema des Wahlkampfes: die Aufrüstung der EU und die Weigerung der Bundesregierung, den UN-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen zu unterzeichnen.
Winfried Wolf, Verkehrsexperte, Gründungsmitglied des Bündnisses "Bahn für Alle" und Chefredakteur der Zeitschrift Lunapark 21
Der Transportsektor, insbesondere der Auto- und Flugverkehr, ist in Deutschland weiter für einen großen Anteit der Treibhausgasemissionen (rund 18 Prozent) verantwortlich, mit steigender Tendenz. Doch statt den Verkehr angesichts des zunehmenden Klimachaos zu begrenzen, werden Autobahnen und Flughäfen mit Steuergeldern massiv ausgebaut. Ein Drittel der 500 größten Unternehmen der Erde sind Teil der Auto-, Flugzeug- und Ölindustrie. Zusammen bilden sie die mächtigste Lobby der Erde. Statt Gewicht und Emissionen von Autos wirksam zu begrenzen, hat es die Politik unter Druck der Lobbys zugelassen, dass PKWs heute doppelt so schwer sind wie vor 20 Jahren. Statt eines weiteren Ausbaus von Flugkapazitäten müsse man über Flugverbote für kurze Strecken nachdenken, die sich problemlos auf die Schiene verlagern ließen, so Winfried Wolf. Damit ließen sich zum Beispiel in Berlin die Hälfte bis zwei Drittel aller Starts und Landungen vermeiden.
Während das Straßennetz jedes Jahr um 1000 Kilometer ausgebaut wird, werden zugleich 300 Kilometer Schienennetz jährlich abgebaut. Subventionen für die Bahn in Milliardenhöhe fließen vor allem in sinnlose und zerstörerische Großprojekte wie Stuttgart 21. Seit Mitte der 1990er Jahre hat die Bahn ihr Personal in Deutschland von 470.000 Mitarbeitenden auf 180.000 mehr als halbiert. Die Folge: Pannen, Sicherheitsrisiken, massive Verspätungen und miserabler Service. Die Bundesregierung besetzt die Bahnführung mit Managern aus der Auto- und Flugzeugbranche. Nur noch 50 Prozent ihres Umsatzes erwirtschaftet das Unternehmen mit dem Schienenverkehr, die andere Hälfte als Global Player im Logistiksektor. Über diesen Sektor drohe auch ein weiterer Privatisierungsvorstoß nach der Bundestagswahl, so Winfried Wolf.
Kurz vor der Sommerpause setzten Union und SPD 13 Grundgesetzänderungen durch, um beim Autobahnbau Öffentlich-Private Partnerschaften (ÖPP) zu ermöglichen. Kritiker sprechen von einer Privatisierung durch die Hintertür. Entscheidungen über Verkehrsinfrastrukturen werden zunehmend demokratischer Kontrolle entzogen, Finanzspekulanten und Lobbys gewinnen an Einfluss, so Winfried Wolf. Bundesverkehrsminister Dobrindt war bereits seit drei Jahren über die absehbare Pleite des ÖPP-Autobahnbetreibers „A1 Mobil“ informiert, und habe, so Wolf, darüber geschwiegen, um die Grundgesetzänderungen noch durchzubekommen. In umfangreichen Geheimverträgen wurden den privaten Betreibern risikofreie Profite zugesichert; nun muss der Staat womöglich für die Pleite haften. Das ebenfalls hochsubventionierte Großprojekt Stuttgart 21 werde voraussichtlich scheitern. Die Kosten explodieren, nach manchen Schätzungen auf bis zu 15 Milliarden Euro. 16 Kilometer Tunnelführung durch aufquellenden Anhydrid-Boden seien nach Einschätzung von Experten „ein Wahnsinn“.
Elektroautos sind, wenn man ihren gesamten Zyklus von der Herstellung bis zur Entsorgung berücksichtigt, unter den gegenwärtigen Bedingungen laut Studien ebenso umwelt- und klimaschädlich wie PKWs mit Verbrennungsmotoren. Aus diesem Grund brauche eine zukunftsfähige Verkehrswende eine massive Reduzierung des gesamten Verkehrsaufkommens, so Winfried Wolf. Der Güterverkehr lasse sich durch Beseitigung unsinniger Im- und Exporte um bis zu 2/3 verringern. Beim Personenverkehr brauche es vor allem kürzere Wege und dezentrale Einkaufs- und Freizeitangebote, mit denen sich die Hälfte der Wege einsparen ließe. Möglichst viel vom verbleibenden Verkehrsaufkommen gelte es dann auf Fuß- und Radwege sowie ÖPNV und Bahn zu verlagern. Allerdings habe sich bisher keine der im Bundestag vertretenen Parteien glaubwürdig für eine solche Verkehrswende eingesetzt. Entscheidend für den Wandel seien daher die zahlreichen Verkehrsinitiativen vor Ort.
Mit einem „EU-Verteidigungsfonds“ würden Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Macron die Weichen für den Aufbau eines militärisch-industriellen Komplexes in der EU stellen und die Staatengemeinschaft zu einem globalen militärischen Player neben den USA, Russland und China machen wollen. „Die Welt wird dadurch nicht sicherer, im Gegenteil“, so Winfried Wolf. Dass die Bundesregierung außerdem den UN-Vertrag zur Abschaffung von Atomwaffen, der im Juli von 122 Staaten unterzeichnet wurde, boykottiert, sei „ein Skandal“. Es stehe zu befürchten, dass sich die Bundesregierung heimlich eine nukleare Option offen halten wolle – zumal noch immer Atomwaffen im pfälzischen US-Stützpunkt Büchel lagern.